Gedanken aus Lesbos

15. Juni 2020

“Restaurants sind dicht, die Schulen geben kein Mittagessen mehr aus, Landwirte bleiben deshalb auf ihrer Ware sitzen. Ein Hühnerzüchter sieht sich gezwungen, 750.000 Eier zu zerschmettern – wöchentlich. Gemüsebauern pflügen ihre Ernte unter, in Idaho vergräbt einer Tausende Kilo Zwiebeln.”1

Zur Einordnung

Dieses Zitat aus der „ZEIT“ hat mich vor gut einem Monat dazu bewogen, ein paar Gedanken aufzuschreiben und an einige Genoss:innen zu schicken. Jetzt haben sie mich überzeugt diese zu veröffentlichen. Zu diesem Zeitpunkt waren die sogenannten Hygienedemos noch recht neu und groß und deren Aufkommen sowie ihre Entwicklung beschäftigten mich ziemlich stark. Der rassistische Mord an George Floyd durch einen US-amerikanischen Cop war noch nicht geschehen und die darauf folgenden Aufstände in den USA nicht absehbar. Vielleicht ist es doch ganz gut diese Gedanken – auch wenn sie vermutlich nichts wirklich Neues darstellen – mit euch zu teilen, da die See auf der wir alle segeln, gerade recht stürmisch ist. Ein gemeinsames Verständnis unserer Kämpfe und die Ablehnung falscher Lösungsvorschläge sind daher sehr wichtig. Zu nennen wären da allerlei Verschwörungstheorien. Oder aber auch jene identitätspolitischen Ansätze, die sich für den „Horizont des ‚Gemeinsamen‘ nicht (mehr) interessieren, sozioökonomische Ungleichheiten ausblenden und in immer kleineren Verästelungen Differenzen individualisieren.“ Hier droht eine Gefahr einer „(Re-)Essenzialisierung des in Anspruch genommenen Unterschieds.“2 Anders gesagt: Jede:r auf dem für ihn:sie zugedachten Platz in der Gesellschaft, alles schön soziologisch durchpolizieren und nur nicht miteinander in die Diskussion und Aktion kommen. Distinktion anstatt eines gemeinsamen Kampfes. Der Beitrag ist keine vollumfängliche Kritik oder wissenschaftlich erstklassig. Das soll er auch nicht sein. Seht es als Anstoße zum Nachdenken und Diskutieren.

Gedanken aus Lesbos

“It’s the economy, stupid!”, sagte einst Bill Clinton3, um den Vormarsch des Neoliberalismus wohlwollend zu unterstreichen. “The economy is stupid“, sage ich! Menschen auf den Straßen Amerikas hungern und man vernichtet (mal wieder) Lebensmittel, weil es der Markt so will. Wo sind denn die ganzen Helden des “deutschen Sprechgesangs”, wenn es darum geht mal den Kapitalismus und seine Grausamkeiten zu bekämpfen? Diese “Helden” regen mich nur noch auf! Statt der Realität eines völlig absurden kapitalistsichen Weltsystems in die Augen zu schauen und sich dagegen zur Wehr zu setzen – und sei es eben nur ein Track der die Jugend radikalisieren könnte, wichsen sich die Typen einen auf ihre Uhren und Autos ab, polieren damit ihr dümmliches Kindergartenego und faseln etwas von wegen Tunneln unter Deutschland die bis nach New York reichen und in denen Roboter und Humanoide oder Reptiloide, oder wer auch immer, um den Fortbestand der Menschheit kämpfen. Dazu gesellen sich dann diese ganzen gehirnverbrannten „Corona-Rebellen“, die den gleichen Mist vor sich hin schwurbeln. Was soll man in so einer Zeit denken? Was sagen? Was tun? Infantiler geht es nicht mehr. Warum glaubt man an Märchen als seien sie Realität? Warum tun das erwachsene Menschen? “Verschwörung dies, Verschwörung das”, so hat es Marcus Steiger in seinem letzten Video auf dem YouTube-Channel von Komm:on treffend genannt4. Vom Juden brauche man ja bekanntlich nur noch raunen. Eine gute deutsche Tradition. Julius Streicher wäre neidisch auf die Ideenfülle neuer antisemitischer Verschwörungswahnsinniger. Wirklich, ich könnte kotzen bei so viel Dummheit. Doch wäre es nur Dummheit – dagegen kann man ja bekanntlich etwas tun. Aber seitdem jedem Dorftrottel durch Selfie-Videos und Social-Media-Kanäle die Netzwelt offen steht, paart sich damit noch eine schlimme Profilneurose. Jede:r denkt er:sie sei Expert:in für alles und trägt das auch noch stolz vor sich her, wie der Mallorcatourist seinen fetten Bierwanst. “Google mal Chemtrails, Juden, Baron Rothschild, Echsenmenschen und Adrenochrom, …” schallt es aus ihren übersatten Mittelschichtsleibern. Dumm, dümmer, Algorithmus – zur Bestätigung der eigenen Infantilität. Das Schlimme daran ist, dass diese (scheinbar harmlose) Dümmlichkeit schnell in mörderische Vernichtung umschlagen kann. Verantwortung für das eigene Handeln kann nur übernehmen wer mündig ist. Davon scheinen viele derer die sich auf den Hygienedemos tummeln doch recht weit entfernt.


“In my opinion, human rights do not exist! (…) Europa und die Menschenrechte sind hier nur ein schlechter Witz. ‘Keiner oder alle!’ sollte wieder unser universeller und linker Schlachtruf werden, statt sich in identitärem Sackgassengefasel zu verlieren.”

Und hier auf Lesbos werden Menschen die vor den verheerenden Auswirkungen eines globalisierten Kapitalismus Schutz suchen auf unmenschlichste Weise zusammengepfercht und wie Dreck behandelt. Aber bis dahin reicht der eigene Wohlstandsblick nicht. Eine 23-jährige Frau wurde vor Kurzem im Camp erstochen. Vermutlich von einer anderen Frau im Streit. Campbewohner:innen schreiben mir, dass sie schwanger war. Das ist die reale Hölle die sich hier jeden Tag ereignet. Die reale Hölle von der Idiot:innen wie Xavier Naidoo nichts wissen wollen, weil es reale Solidarität, echte Anstrengung und wirklichen Kampf bedeuten würde, mit dieser Menschenschindermaschine namens Kapitalismus ein für alle Mal Schluss zu machen. “In my opinion, human rights do not exist!” schreibt ein weiterer Bekannter aus dem Elendslager Moria. Es ist sein Morgengruß an mich.

Europa und die Menschenrechte sind hier nur ein schlechter Witz. “Keiner oder alle!” sollte wieder unser universeller und linker Schlachtruf werden, statt sich in identitärem Sackgassengefasel zu verlieren. Wir müssen die Ökonomie endlich wieder in den Fokus rücken und als das sehen was sie ist, als politisch, als nicht “neutral”, als ein Instrument einer liberalen Ideologie die weltweit über Leichen geht und die komplette Ökosphäre zur Sau macht. Genau diese liberale Ideologie des “Immer-Weiter-So” müssen wir angreifen, anstatt uns im Schulterschluss mit liberalen Eliten im Kampf gegen Rechts zu üben. Was nützt ein “Refugees welcome!”, wenn die Menschen die da willkommen geheißen werden im Dönerladen für 5 € schwarz pro Stunde, oder als Sanifair-Putzkraft enden und immer mehr Menschen fliehen müssen, weil die Welt den Bach runter geht? Der gute alte Subcommandante Marcos hatte Brechts Imperativ doch mal neu aufgelegt und in unsere Zeit transferiert: „Marcos ist Schwuler in San Francisco, Schwarzer in Südafrika, Asiat in Europa, Anarchist in Spanien, Palästinenser in Israel, Indio in San Cristóbal (Chiapas), Jude in Deutschland.“ Warum fällt es der politischen Linken heute so schwer sich darauf zu besinnen? Nur wenn wir in dem Anderen uns selbst erblicken und nicht der ewigen Distinktionspirale einer postmodernen Linken frönen, können wir was verändern, weil wir nur dann gemeinsam und mit Respekt füreinander kämpfen können. Leider sehe ich das gerade nicht wirklich. Aber ich höre das Flüstern, dass es so etwas braucht aus vielen Ecken. Die Frage die zu beantworten wäre ist folgende: Wie organisieren wir uns dementsprechend, reflektiert und zugleich schlagkräftig? Entweder wir unternehmen gemeinsam diese Anstrengung, oder wir sind geliefert. Das wird mir hier auf Lesbos nochmal viel, viel klarer und während ich das schreibe, läuft im Hintergrund “Gimme shelter” von den Stones:

Oh, a storm is threat’ning
My very life today
If I don’t get some shelter
Oh yeah, I’m gonna fade away”

Ich denke das drückt ganz gut aus wie es vielen Menschen. Ob in den Schlauchbooten auf dem Weg nach Europa, in den türkischen Knästen, auf deutschen Spargelfeldern, in den Bergen Kurdistans, auf den Baustellen Dubais, in den Koltanminen der Demokratischen Republik Kongo geht. Und auch jenen Menschen im globalen Norden, die angewidert durch den “Nihilismus des Westens” (Manemann), nach einem ganz anderem Ganzen suchen.5 Ein kollektivistisches und universelles linkes Projekt, dessen Notwendigkeit Alain Badiou immer wieder betont, sollte diese gemeinsame Zuflucht sein. Natürlich: Keine Befreiung ohne auch über Rassismus, Sexismus, Homophobie, Antisemitismus und alle anderen Unterdrückungs-Ismen nachzudenken und diese zurückzudrängen. Das geht aber nur in gemeinsamen Kämpfen. Wo sollen wir denn sonst bitte den nötigen Respekt füreinander lernen? Das kommt bestimmt nicht von schlauen Büchern und Uni-Seminaren. Wenn Kommunismus dafür kein passender Name mehr ist, weil vielleicht doch zu viel Blut an dieser wunderbaren Idee klebt, dann muss eben ein neuer Name gefunden werden.6 Es liegt in jedem Fall an uns dieses Projekt zu formen und eine reale Bewegung in Gang zu bringen, bei der wir nicht als Außenstehende wirken, sondern uns als Teil dieses Kampfes begreifen und mit Respekt füreinander kämpfen.7

Wenn die USA in einer beispiellosen Wirtschaftskrise versinken, dann droht uns keine stürmische See, sondern ein Tsunami. Umso wichtiger wird das hier angesprochene Projekt. The clock is ticking, times are changing my friends.

Eine Person aus dem Konfront Kollektiv


Quellen und Anmerkungen

Das Titelbild ist bei einer Demonstration der schwarzen Community am 22.04.2020 im Elendslager Moria entstanden. Mehr Infos: https://twitter.com/lifeline_intl/status/1253672863703478272

1 https://www.zeit.de/2020/21/wirtschaftskrise-usa-landwirtschaft-gastronomie-oelindustrie?utm_source=pocket-newtab-global-de-DE

2 https://www.bpb.de/apuz/286508/identitaetspolitik-gegen-ihre-kritik-gelesen-fuer-einen-rebellischen-universalismus?p=0&fbclid=IwAR0Md4J3ZHn04y-bGh09kd-CL4zjKvK96aOHPdrJ3GUpnjrm-1PFMYgFPqU

3 Eigentlich von seinem Wahlkampfberater James Carville 1992 entwickelt und innerhalb der Wahlkampfkampagne gegen d en damaligen Amtsinhaber George H. W. Bush. Durch Clinton genutzt.

4 https://www.youtube.com/watch?v=VtPLAdz4LA0

5 Ohnehin schlägt die der koloniale Gestus des globalisierten Kapitals auf die ehemaligen Kolonialherren zurück. Auch Europa ist davon betroffen. Die Bevölkerung Griechenlands musste diese bittere Erfahrung während der “Bankenkrise” a.k.a. “Staatsschuldenkrise” a.k.a.”Finanzkrise” machen. Strukturanpassungsmaßnahmen die sonst nur im globalen Süden zum Tragen kamen, wurden nun Griechenland aufgezwungen.

6 Das denken wir natürlich nicht 😉

7 Wir empfehlen noch einen super Artikel des Genossen Peter Schaber im Lower Class Magazine welcher in die selbe Richtung geht:
https://lowerclassmag.com/2020/06/05/fuer-einen-proletarischen-revolutionaeren-antirassismus-einige-ueberlegungen-zum-aufstand-in-den-usa/

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