Lesbos und das Militär

17. September 2020

Da einer unserer Kollektivisten seit Mitte März auf der Insel Lesbos ist, wollen wir euch die Insel und ihre Geschichte etwas näher bringen. Der Genosse ist vor Ort, um sich mit antifaschistischen Strukturen zu vernetzen, Geflüchteten im Elendslager Moria zu helfen und über die Lage vor Ort zu berichten. Er ist aktiv in das DunyaCollective1 eingebunden und hat in den letzten sechs Monaten auch viel zur Inselgeschichte erfahren und recherchiert. So ist zum Beispiel ein Zeitzeugengespräch mit dem 90-jährigen Widerstandskämpfer Michallis der u.a. gegen die deutschen Besatzer aktiv war, entstanden. Das so entstandene Portrait „Leben im Widerstand“ werden im Winter in Kooperation mit dem Lower Class Magazine und dem Antifa Infoblatt veröffentlichen. Doch fangen wir Schritt für Schritt an und reden zunächst über die Militarisierung der Insel und all die Abscheulichkeiten die sie mit sich bringt.

Wehrdienst

Was einem auf der Insel sofort ins Auge sticht sind die vielen Militärbasen und -schiffe. Man sieht hier viele junge Männer die mit Seesäcken oder anderen Militärrucksäcken ihren Wehrdienst antreten. An den Wochenenden laufen sie in kleinen Grüppchen in den die Militärbasen umgebenden Städten und größeren Ortschaften umher. Sie wirken dabei manchmal etwas orientierungslos. Ihr markanter Militärhaarschnitt und der schon fast obligatorische Schnauzbart verrät sie für das geschulte Auge – auch wenn sie sich in Zivilkleidung bewegen. Anders als in Deutschland gibt es die Wehrpflicht in Griechenland noch. Ein Umgehen ist oft ein schwieriges Unterfangen, denn ein Wehrersatzdienst existiert nicht. Einige versuchen den Dienst an der Waffe über ein Studium zu vermeiden, andere über das Erlangen der Wehruntauglichkeit. Für letztere braucht es viel Geduld, Kreativität und Hartnäckigkeit. Die bisher absurdeste Geschichte war die eines jungen Mannes der händchenhaltend mit seiner Mutter vor die Militärärzt:innen getreten ist. Seinen Blick auf den Boden gerichtet, sagte er mit leise murmelnder Stimme, dass er noch nie eine Freundin gehabt habe, an Depressionen leide und sich einnässen würde. Dabei drückte er die Hand seiner Mutter immer fester, um sein psychisches Leide physisch zu unterstreichen. An ihm muss ein Schauspieler verloren gegangen sein, denn nach mehreren Gesprächen und Untersuchungen stellte man ihn vom Wehrdienst frei.

Götzenbilder für das Vaterland
  
Grund für die Militarisierung ist die geopolitische Lage der Insel. Lesbos ist im Norden teilweise nur 8 km Luftlinie von der türkischen Küste entfernt. Die Insel wird oft als letzte europäische Bastion vor dem Nahen Osten verklärt: sozusagen als Torhüterin Europas. Das betrifft nicht nur Themen wie Flucht und Migration, sondern auch die Beziehung Griechenlands zu ihrer Nachbarin Türkei. Eine tiefsitzende und bis in die Zeit des Osmanischen Reichs zurückreichender Abneigung gegen die Türkei ist auch hier spürbar. Bei weitem betrifft das nicht alle Inselbewohner. Doch überall auf der Insel findet man Mahnmale für Soldat:innen, Helden, Feldherren. Oft beziehen sie sich auf den Griechisch-Türkischen-Krieg und die Zeit des brutalen Bevölkerungsaustauschs im Nachgang des selbigen. Auf der Symbolebene wird die Erinnerung an die Verbrechen der türkischen Seite aufrechterhalten, ohne dabei an eigene Massaker zu erinnern.

Im hügeligen Umland von Mytilini haben wir den drehbaren Gefechtsturm eines Panzers entdeckt. Ihn umgeben kleine Schützengräben. Alles wirkt etwas drapiert, als wäre es eine groteske Form eines Kinder- oder Erlebnisspielplatzes. Vielleicht ist es das auch und man will hier bereits den Jüngsten zeigen wo der Feind steht und dass das Leben und Sterben fürs Vaterland eine natürliche Sache sei. Und natürlich war die Kanone des Panzers bei jedem Besuch wieder auf die Türkei gerichtet. Zufall oder nicht, die militarisierte Landschaft der Insel ist Bekenntnis und Statement gleichermaßen. Bekenntnis zum griechischen Staat und Nationalismus. Statement an die Türkei, dass man immer bereit zum Einsatz ist. Auch wenn Griechenland und die Türkei Mitgliedsstaaten der NATO sind, sind sie sich im Grunde spinnefeind. Zurzeit wachsen die Spannungen wieder und das Säbelrasseln wird lauter. Es geht um unterseeische Bodenschätze, genauer: Erdgasvorkommen im östlichen Mittelmeer. Beide Länder beanspruchen diese für sich. Die Stimmung ist so angespannt wie lange nicht mehr und eine Genossin berichtete uns, dass auch ihr Bruder, ein Reservist der griechischen Armee, in Bereitschaft versetzt wurde. Jüngst drohte der türkische Despot sogar öffentlich mit einem Krieg.2 Wir halten es mit unseren griechischen Genoss:innen die auf ihren Demos rufen:

„Το Αιγαίο ανήκει στα ψάρια του!“ – „Die Ägäis gehört den Fischen!“ 3

Pushbacks als militärische Operation

Auch die Küstenwache ist militarisiert und hat großkalibrige Geschütze an Bord installiert. In Kriegszeiten untersteht sie dem Militär, in Friedenszeiten der zivilen Kontrolle des Ministeriums für Handelsschifffahrt. Sie wird u.a. zur Bekämpfung sogenannter illegaler Migration eingesetzt – besser bekannt als Pushback-Operationen. Es gibt Berichte, dass Menschen die bereits griechische Gewässer erreicht haben, wieder aufs Meer zurück geschleppt werden bis hinein ins türkische Hoheitsgebiet. Außerdem werden Schlauchboote die man vor dem Erreichen der griechischen Küste abfängt auf offener See zerstochen, Motoren zerstört, um sie manövrierunfähig zu machen und Flüchtende in Rettungsinseln zurückgelassen.4 So will man die türkische Küstenwache dazu zwingen die Menschen wieder in die Türkei zu bringen. Videoaufnahmen wie die griechische Küstenwache sogar Warnschüsse vor ein Boot mit Flüchtenden abfeuerte, gingen Anfang März um die Welt.5 Auch Berichte darüber, dass die jeweiligen nationalen Küstenwachen gleichzeitig versuchen Schlauchboote in das jeweils andere Hoheitsgewässer zu schieben existieren. Dies alles verstößt massiv gegen geltendes internationales Recht und ist zutiefst menschenverachtend. Menschen die in Europa Schutz suchen werden so im wahrsten Sinne des Wortes zum Spielball der großen Politik. Die Folgen des Verschmelzens von Krieg und Sicherheit, von Militär und Polizei und des thematischen sowie politisch-praktischen Verknüpfens von Katastrophenschutz, innerer Sicherheit und Migration wird hier in aller Härte deutlich.

P.S.: Das Legal Center Lesbos hat eine gute Zusammenfassung der Pushbacks die sich von März bis Juni 2020 ereigneten, veröffentlicht.6


1 Das Dunya Collective liefert tagesaktuelle Informationen und News zu den Geschehnissen rund um das Elendslager Moria. Checkt ihre Kanäle aus, auf Twitter, Instagram, Facebook und Telegram.

2 https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/streit-um-aegaeis-tuerkei-droht-griechenland-mit-krieg-16928878.html?utm_source=pocket-newtab-global-de-DE

3 Ausgesprochen in etwa so: To Agjeio aniki sta psaria tu!

4 https://www.dw.com/de/unhcr-beklagt-pushbacks-in-griechenland/a-54655964

5 https://www.youtube.com/watch?v=Y7Y3moC6Cxc

6 http://legalcentrelesvos.org/wp-content/uploads/2020/07/Collective-Expulsions-in-the-Aegean-July-2020-LCL.pdf

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